Freitagabend, kurz vor heute show dachte ich noch, dass alle Aspekte zu Herrn Guttenbergs Promotionsemulation in Blogs, Zeitschriften, Talkshows, Tweets breit ausgewalzt worden seien. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es noch neue, gute Witze dazu gäbe. Oliver Welke und sein Autorenteam bewiesen, dass dort doch noch einiges geht. Aber darum soll es gar nicht gehen, so komisch ist die Angelegenheit nämlich nicht.
Wer mich auch nur ein wenig kennt, weiß, wie aggressiv-allergisch ich auf Anti-Intellektualismus reagiere. Nein, ob jemand dumm ist oder ungebildet, ist für mich kein Thema – solange jemand gewillt ist, dazu zu lernen und sich nicht zu einer Art Gegenelite zu stilisieren. Den meisten Menschen ist die Bedeutung von Wissen und Forschung sehr wohl bewusst, sie gehen zum Arzt, am liebsten dem Doktor, sie vertrauen auf pharmazeutische Produkte, auf chemische im Alltag – sehen Sie mal in Ihre Küche und Ihr Bad, was da alleine an Reinigungsmitteln rum steht.
Und dann gibt es den Kolumnenfurz Franz Josef Wagner von der BILD, der sich nicht einmal schämt. Für gar nichts. Er findet es in Ordnung dumm und ungebildet zu sein, klatscht Herrn Guttenberg Beifall, weil so ein Doktortitel ohnehin überflüssig ist. Ich verlinke nicht dorthin, nicht, weil ich mir das ausgedacht habe, sondern weil ich nicht zur BILD verlinke. Schlimm an FJWs Ausfällen gegen hart arbeitende Wissenschaftler ist, dass offenbar sehr, sehr viele Deutsche die gleiche Position beziehen: Wissenschaft ist schwierig, uninteressant, Elfenbeinturm, fürs tägliche Leben uninteressant.
Ich finde es empörend, dass sich wegen eines gegelten “Adligen”, der ja so ein lieber Kerl und so kompetent ist, Menschen mit Universitätsabschluss inzwischen entschuldigen müssen. Im Grunde interessiert es mich nicht, wie der Mann da hin gekommen ist, wo er ist, mich interessiert auch nicht, warum so viele Menschen ihm die Treue halten. Liegt es am guten Aussehen, am gespielten zackigen Offiziersgehabe, am Adelstitel [nebenbei: Adelstitel und –privilegien sind in Deutschland seit 1919 abgeschafft]? Auf keinen Fall liegt es an Kompetenz.
Die private Note
Ich habe studiert, keines dieser karrierefördernden Fächer wie Jura, Wirtschaftslehre oder Medizin, ich bin Literatur- und Sprachwissenschaftler, Soziologe und Philosoph. Mit Abschluss, ganz rechtmäßig, kein Plagiat – Magister Artium. Sehe ich meine Magisterarbeit heute an, fast 20 Jahre nach Abgabe, finde ich vieles, was ich anders, womöglich besser machen würde. Ich würde allerdings genau wie damals an mich und meine Arbeit hohe Anforderungen stellen, bereits in ihr eigentlich nicht geforderte eigene neue Gedanken einbringen.
Sie sollte nicht meine letzte akademische Arbeit bleiben, ich begann gleich nach Abgabe meine Dissertation. Monatelang recherchierte ich, machte ich mir Gedanken, entschied, welche Quellen notwendig waren, bestellte Bücher aus diversen Bibliotheken zusammen. Ich arbeitete schon einige Jahre mit Computern, war froh, all das Material, das zusammenkam, nicht in Zettelkästen sortieren zu müssen. Einer der Vorteile der Geisteswissenschaften ist die hohe Spezialisierung, die man erreichen kann, so ist es durchaus möglich einen längeren Beitrag über ein Komma bei Shakespeare zu schreiben. Wohlgemerkt, ein bestimmtes Komma, an einer Stelle in einem Stück.
Das genaue Thema meiner Arbeit tut nichts zur Sache, es ging um einen Aspekt im Werk eines Kriminalromanautoren. Da der Mann noch lebte und Genreliteratur erst langsam zu akademischen Weihen kam, gab es wenig Sekundärliteratur zu ihm, aber ich benötigte eine ganze Menge aus anderen Fachbereichen [u.a. Biologie; go figure]. Eine Monographie zu ihm gab es aber doch, bei einem obskuren Verlag in Boston erschienen, schwer ranzukommen damals. Glücklicherweise kannte ich jemanden, der mir das Werk mitbringen konnte.
Here’s the catch
Ein schmales, rotes Bändchen liegt in meinen Händen, betitelt einfach nach dem Schriftsteller, um dessen Krimis es geht. Ein erster Blick ins Inhaltsverzeichnis, der zweite geht in die Bibliographie, die kürzer ist als meine. Ein wenig quer lesen, an einigen Stellen festlesen. Erste Notizen machen. Morgen für die Intensivlektüre vorsehen. Am nächsten Tag das Buch und einige weitere, einen Block, Bleistift zusammenpacken, aufs Fahrrad, ab ins Institut. Bibliotheksbücher abgeben, Arbeitsplatz suchen, lesen, markieren.
Erschrecken. Weiter lesen. Panik steigt hoch. Kämpft mit Frustration. Was tun? Weiter, vielleicht …
Nein, es wird nicht besser. Das Buch, von dem nur ich wusste, das nicht einfach zu beschaffen war, das wirklich gut ist – dieses Buch ist zu 90% MEINE Dissertation. Leider geschrieben und veröffentlicht, bevor ich auch nur angefangen hatte. Verloren.
Nach Absprache mit meinem Doktorvater trat ich alles, was ich die letzten 2 Jahre getan hatte, in die Tonne. Wörtlich. Ich wollte keine Doktorarbeit abgeben, von der ich wusste, dass sie nichts wirklich Neues enthielt. Lieber mit einem völlig neuen Thema anfangen.
Epilog
Auch die zweite Arbeit habe ich nie abgegeben, es war mir mit Mitte 30 egal geworden. Ich arbeitete, verdiente zu der Zeit nicht schlecht, eine akademische Karriere war aus diversen Gründen nahe aussichtslos. Irgendwo fliegen die Unterlagen, Notizen und Entwürfe noch rum, wenn es mich eines Tages packt, schreibe ich das vielleicht zu Ende. Auch wenn der Doktorgrad durch Herrn Guttenberg selbst als Vanityprojekt völlig entwertet wurde. Mal sehen.
Fremde Federn
Ich will Sie nicht entlassen, ohne Ihnen ein paar Links zu anderen Artikeln über Guttenberg und das Plagiat in der Wissenschaft ans Herz zu legen:
Die Wissenslogs von Spektrum der Wissenschaft haben ein eigenes Bloggewitter angelegt.
Thilo Baum beleuchtet die weit reichenden Auswirkungen der Geschichte. [Edit 10. Mai 2015: Link nicht mehr erreichbar, daher gelöscht.]
Gleich dreimal hat Michael Spreng die politischen und gesellschaftlichen Implikationen des Falles betrachtet, zu Beginn, am Montag und heute.
Horst Müllers Überlegung zu Ehrlichkeit, Wissen und Blendern. [Edit 10. Mai 2015: Offenbar durch Änderung der Permalinkstruktur war der originale Link nicht mehr zu erreichen. Ich habe daher einen Link zu Ergebnissen der Suche ‘Guttenberg’ gesetzt.]
Zu guter Letzt ärgert sich auch Alexandra Preis über Guttenbergs Umgang mit den Fakten – und seinem Fanclub.