Es gibt es erst seit 1976, damals erfand Richard Dawkins ein Kulturelement, das ähnlich funktioniert wie ein Gen, also eine replizierende Einheit. Er benutzte als Beispiel in seinem bahnbrechenden Buch The Selfish Gene die Rule Britannia, deren Text an einer Stelle von vielen Menschen falsch verstanden und falsch wiedergegeben wird. Aber es geht nicht nur um Fehler, Meme können auch ganz bewusste, richtige Gedankensplitter sein. Wichtigstes Merkmal ist deren Vervielfältigung – und da diese kulturell stattfindet, folgt sie eher den schnellen Mustern des Lamarckismus als den langsameren nach Darwin’schen Vorstellungen.
Politische Berater nutzen Meme inzwischen reichlich, sie versuchen einen Diskurs zu beherrschen, indem sie einfach zu verstehende sound bites entwickeln, die dann von Politikern immer wiederholt werden. Dabei kommt es weder auf den Wahrheitsgehlt noch auf Logik oder historische Genauigkeit an, sondern auschließlich darauf, dass die Zuhörer den Gedanken direkt aufnehmen können. Da werden ‘liberals’ zu Sozialisten umdefiniert oder – in Europa – zu rechtskonservativen Sozialdarwinisten. Solidarität wird zum Schimpfwort und so fort.
Sprache ist also wichtig
Nun sind Politiker erst einmal Verkäufer, sie haben ein Interesse sich selbst und ihre Ideologie gegen andere durchzusetzen. Wer ihnen übel nimmt, dass sie lügen, sollte auch auf Deo, Make-up und Schmuck verzichten. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir den Politikern nicht aufs Maul schauen sollen! Im Gegenteil. Journalisten in früheren Zeiten sahen sich als Aufpasser, sie sortierten snake oil aus, achteten darauf, dass zumindest nicht die übelsten Lügner in Regierungspositionen kamen. Mark Twain, H.L. Mencken, Ben Hecht, Ed Murrow, Egon Erwin Kisch sind nur einige Beispiele, die auch heute noch junge Menschen zum Journalismus ziehen.
Nicht jeder muss politische Kommentare schreiben, wir brauchen auch nicht nur so genannte investigative Journalisten, die wie Bluthunde der Fährte möglichen Unrechts folgen. In einer Zeit, in der die Sprache wieder vermehrt genutzt wird, um ungenau zu sein, in der politische Aussagen zu schleimig-glitschigen Seifenstücken werden, die sich nicht packen lassen, in so einer Zeit sind jene wichtig, die genauer auf die Sprache schauen. Jemand wie Karl Kraus oder – noch einmal – H.L. Mencken.
Die Sprachwächter
Deutschland hat seine Sprachüberwacher. Neben den verfassten Vereinen wie dem VDS gibt es da vor allem drei Namen, die immer wieder auftauchen: Wolfgang Schneider, ehemaliger Top-Journalist, Walter Krämer, Wirtschaftstatistiker, Bastian Sick, Lektor. Schneider kämpft für einfaches, verständliches Schreiben – eine ehrenwerte Aufgabe, bei der er manches Mal seine persönlichen Stilvorlieben zu sehr in den Vordergrund drängt. Walter Krämer ist vor allem dafür bekannt, die deutsche Sprache rein zu halten; aus seiner Sicht machen Begriffe, die aus dem englischen übernommen werden oder auch nur einen englischen Anklang haben, die deutsche Sprache schwer verständlich. Und Bastian Sick kapriziert sich darauf, Menschen unterhaltsam Fehler vorzuhalten.
Zu Bastian Sicks beliebtesten Beiträgen gehören die inzwischen als Foto-basierte Klickstrecken auf SPIEGEL Online erscheinende Zwiebelfischchen, für die Leser mehr oder weniger komische Schreibfehler aus dem öffentlichen Raum einschicken. Vor einiger Zeit regte mich da der Hang zum Ausländer-Bashing auf, in dieser Woche die Wiederholung eines längst widerlegten Mems:
Ein Gasthaus hängt ein selbst gemachtes Banner raus, wirbt damit für das dort zu sehende WM-Spiel Deutschland-Argentinien mit den Worten ‘Puplic [sic!] Viewing’. Herr Sick schreibt dazu: Da ‘Public Viewing’ im englischen Sprachraum … eine … andere Bedeutung hat (… öffentliche Aufbahrung) …
Was heißt Public Viewing?
Mindestens seit der Fußball-Europameisterschaft der Herren im Jahre 2008 finden sich immer wieder einige Halbgebildete, die uns gefragt oder ungefragt, aber auf jeden Fall mit süffisantem Grinsen, erklären, dass ‘Public Viewing’ im Englischen ja die öffentliche Aufbahrung von Toten sei. Das ist in der Runde auf dem Heiligengeistfeld, halb besoffen von Jubel und Bier noch amüsant. Es wird zum Ärgernis, wenn es in Zeitungen und im Fernsehen wiederholt wird. Es ist übelste Propaganda und ganz schlimme Desinformation, wenn es trotz gegenteiliger Belege fröhlich benutzt wird, um zu zeigen, wie blöd die Deutschen sind, ihre Sprache zu verhunzen.
Der Bremer Anglist Anatol Stefanowitsch wies bereits zur EM darauf hin, dass Public Viewing durchaus nicht die öffentliche Aufbahrung sei, außerdem spiele die Bedeutung in irgendeinem englischen Sprachraum keine Rolle, wenn es darum geht, was ein Begriff in der deutschen Sprache meint. Und er griff es zu Beginn der Fußball-WM 2010 in zwei weiteren Artikeln auf: Hier und hier. Wie immer lohnt es sich, nicht nur seine Text zu lesen, sondern auch die Kommentare, von denen ich zwei [meine eigenen] kurz wiedergebe.
Jede Art gemeinsamen öffentlichen Anschauens ist ‘public viewing’, da kann der Betrachtungsgegenstand tot sein, leben, Tier, Pflanze, Mineral sein, es spielt keine Rolle für die Bedeutung. Die Behauptung, es hieße ursprünglich ‘öffentliche Leichenaufbahrung’ ist schlicht falsch. Das ist im günstigsten Fall eine Nebenbedeutung jüngeren Datums.
Wenn Staatsoberhäupter sterben ist es in vielen Ländern üblich, eine Totenwache zu halten, dabei wird dann oft zwischen unterschieden nach den Tagen, an denen jeder am offenen Sarg vorbei darf, und Tagen, in denen nur die Familie und enge Freunde oder offizielle Besucher vorbeischauen dürfen. ‘Public viewing’ bezeichnet nicht etwa die Aufbahrung an sich, die weiterhin ‘lying in state’, ‘layed out’ oder ‘wake’ heißt, sondern jene Tage, an denen die Öffentlichkeit schauen darf.
Schauen wir in einige Wörterbücher
Collins, 5th ed: laying out; lying in state [public viewing taucht als eigenständiger Begriff gar nicht auf]
Longman DCE, 2003: lay out [gibt kein public viewing]
New Oxford Thesaurus, 1st ed, 2000: verzichtet komplett
New Shorter Oxford English Dictionary, 1993: lay out; lying in state [public viewing taucht nicht als eigenständiger Begriff auf]
Oder fragen wir einmal in England und Tennessee nach
Ich fragte zwei Bekannte unabhängig voneinander, eine US Amerikanerin über 80 Jahre alt, ehemalige Lehrerin aus Texas, lebt jetzt in Tennessee. Außerdem einen Engländer über 50.
Frage: What do you understand when a friend tells you he’s going to a ‘public viewing’?
Antwort E: [H]e’s going to an open gallery and anyone can go. A private viewing would be by invitation only.
Antwort US: I understand that it’s something to see that’s open to the general public. Like, perhaps, a painting displayed in an art museum.
Aus England bekam ich noch dies: There can be a ‘public viewing’ of a corpse, yes, but the term ‘public viewing’ is not specific to that and is more often associated with an exhibition at a gallery (when used without context).
Wir glauben lieber Falsches, als Richtiges zu recherchieren
Bis zu dieser Woche war ich davon ausgegangen, dass unser geliebten Sprachnörgler wenigstens die Kolumnen ihrer Konkurrenten lesen. Stefanowitchs Artikel sind schon länger online, Bastian Sick hätte also Zeit gehabt, dort einmal reinzuschauen bevor er den Blödsinn von der öffentlichen Aufbahrung wieder auf die unbedarfte Leserschaft los lässt. Auf meine Nachfrage, ob ihm die Texte aus Bremen bekannt seien, bekam ich nur die übliche Standard-E-Mail zurück, er freue sich, dass ich seine Kolumne lese, könne aber nicht persönlich antworten. Auch in der Klickstrecke ist der Kommentar noch vorhanden.
Anstatt Aufklärung zu betreiben, wird den Menschen wieder ein Mem mit falschem Inhalt vorgesetzt – das Gegenteil dessen getan, was die Aufgabe eines Journalisten oder Sprachwächters wäre. Geht es also gar nicht darum, die Menschen zu sensibilisieren? Geht es doch nur darum, Vorurteile zu stützen, Falsches weiter zu verbreiten? Oder, salopp geschrieben, scheißen unsere Sprachnörgler einfach drauf?
PS: Ein wirklich komischer Schreibfehler wäre übrigens ‘pubic viewing’, was wirklich etwas völlig anderes ist als Public Viewing.
Sie scheißen darauf. Schon das Format „Klickstrecke“ zeigt, dass es Spiegel Online bei dem Format um möglichst viele “Page Impressions” geht. Je vermeintlich falscher die Fehler sind, desto mehr Klicks gibt das. Fehler einzugestehen würde dagegen nur wenige dazu bringen, Herrn Sicks Kolumne (wieder) zu lesen.