Nichtsahnend blätterte ich gestern durch meine Twitter-Timeline, als plötzlich der Kreis-/Ortsverband Bottrop der FDP in sie gespült wurde.
Wir sollten alles daran setzen, Menschen aus der Abhängigkeit der Sozialsysteme zu befreien für Selbstbestimmung. https://t.co/UDXPDVTM6o
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Das klingt klasse, das können wir doch alle unterschreiben. Also lobte ich die FDP Bottrop.
@FDP_Bottrop @Kathie_78 Ihr seid endlich auch für ein BGE? Super!
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
BGE, für die, die das noch nie gehört haben, heisst ‘bedingungsloses Grundeinkommen’. Grob umrissen geht es darum, jedem Menschen eine Summe [knapp über dem Existenzminimum] zu geben, dafür alle anderen staatlichen Geldleistungen zu kappen. In den Details ist das schon ein wenig komplexer, aber Sie wissen jetzt,. um was es geht.
Das BGE würde Menschen ermöglichen aus pekuniären Abhängigkeiten heraus zu kommen und selbst zu bestimmen, was sie wann der Gesellschaft als Arbeitsleistung beibringen. Die Idee ist nicht so neu, sie lässt sich durchaus in den Schriften Adam Smiths finden.
Darauf hätte die FDP Bottrop vielerlei antworten können, um einen ohnehin bereits lobenden Wähler von sich zu überzeugen. Zum Beispiel hätten sie schreiben können: ‘Wir sagen dazu Bürgergeld. Hier, schauen Sie mal in unser Programm.’ Natürlich mit Link zum Programm. Haben Sie aber nicht.
@Evo2Me Wir sind für Bürgergeld und Rahmenbedingungen, die Arbeit schaffen. @Kathie_78
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
OK, der erste Teil steht ein wenig einsam, wird inhaltlich nicht gefüllt. Was soll ein ‘Bürgergeld’ sein? Handelt es sich um eben jenes erwähnte Grundeinkommen? Zahlt jeder Bürger es als Eintritt in die Gesellschaft, dafür aber keine weiteren Steuern mehr? So ganz klar ist das nicht, das Wort verschleiert mehr als es aufklärt.
Der zweite Teil ist wenig konkret. Arbeit gibt es immer genug. Sind womöglich Arbeitsplätze gemeint? Oder Arbeitskräfte? Alles sehr vage. Ich halte der FDP Bottrop zugute, dass wir auf Twitter sind – da muss man notgedrungen verkürzen. Unter ökonomischen Gesichtspunkten scheint mir ein anderer Punkt wichtiger:
@FDP_Bottrop Rahmenbedingungen, die anständige Einkommen schaffen, hielte ich für sinnvoller. @Kathie_78
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
FDP Bottrop seltsam altbacken dazu:
@Evo2Me Das setzt ja voraus, dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht (Angebot und Nachfrage). @Kathie_78
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Das klingt sehr nach diesen ’70er-Jahre-Rezepten’, die von der FDP in Bezug auf Gewerkschaften gern abgelehnt werden.
@FDP_Bottrop Nein. Es setzt wachsende Produktivität und faire Verteilung dieses Wachstums voraus. Mit Arbeit hat das sekundär zu tun.
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop Unmengen historischer Beispiele zeigen, dass Arbeit ohne Einkommen möglich ist. Aber wer will das – ausser Sklaventreibern.
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
Ich weiss, das ist leicht angespitzt, indem ich das Konzept ‘Hauptsache Arbeit’ einfach mal konsequent weiter dachte. Noch einmal: Arbeit gibt es immer. Arbeit für lau würde auch gerne genommen. Anständig bezahlte Arbeit ist das Problem.
@Evo2Me öhm.. Angebot und Nachfrage gilt nicht mehr? Seit wann das denn?
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Fragen Sie mich nicht, woraus die FDP Bottrop obigen Schluss zieht.
@FDP_Bottrop Das war jetzt ein absichtliches Missverständnis, oder?
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
Es ist schön zu sehen, dass dort immerhin das Fundament des Wirtschaftens an sich bekannt ist. Das Angebot-Nachfrage-Prinzip ist so grundlegend, dass ich es selbstverständlich voraussetze; darüber muss nicht diskutiert werden. Selbst in der Planwirtschaft existiert es, dort glaubt man allerdings, sie seien vglw. feste Grössen, die langfristige Planung ermöglichen.
@Evo2Me nein. Sie bestreiten ja, dass die Arbeitspreisbildung etwas mit Angebot und Nachfrage zu tun hat.
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Das ist jetzt nicht nur ein klassisches Non-sequitur, es ist auch bereits recht aggressiv für eine Partei, die mich – der ich mit Lob begann! – doch wohl gerne als Wähler hätte.
@Evo2Me Wenn aber viel Arbeit und wenig Arbeitende da sind, welche Arbeit werden die Arbeitenden dann wählen?
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
In einer idealen Welt mit Vollbeschäftigung, praktischer, uneingeschränkter Freizügigkeit selbstverständlich, jene Arbeitsstelle, die den meisten Gewinn verspricht. Sofern sie, wie Adam Smith bereits beobachtete, keinerlei pekuniären Zwängen unterliegen. Die Modellwelt, in der man samt Familie mal eben von Flensburg nach München, im nächsten Jahr nach Köln, zwei Jahre drauf nach Parchim zieht, existiert nur für die EXCEL-Sheets der Ökonomen. Die meisten wissen das auch.
Die Wirklichkeit ist komplexer. In der Wirklichkeit kostet ein Umzug Geld, nicht wenig. In der Wirklichkeit hat jedes Bundesland ein eigenes Schulsystem, was es für die Kinder nicht einfach macht. In Wirklichkeit kann ein Mensch ohne BGE eben nicht frei entscheiden, wem er wo für wie viel seine Arbeitsleistung zur Verfügung stellt.
@FDP_Bottrop Sie hören bei 'Nein' auf zu lesen und beziehen dieses 'Nein' auch noch auf ihre Fussnote in der Klammer?
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
Normalerweise schicke ich Menschen, die so komplett an Texten vorbei lesen, wie es hier geschieht, zu meinem Schnellkurs in Lesekompetenz. Ich war zwar bereits leicht genervt von den Antworten, die aussehen, als würde einem Call-Centre-Script gefolgt, doch immer noch interessiert, wie ernst man dort die Selbstbeschreibung der FDP als ‘wirtschaftskompetent’ nimmt.
@FDP_Bottrop Ich bestreite ganz offensichtlich, dass 'Arbeit' der wesentliche Faktor ist. Produktivität ist entscheidend. Das ist nicht mal
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop eine besonders neue, originelle oder abseitige Sicht.
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@Evo2Me Also stimmen Sie mir zu, dass mehr Arbeit (durch bessere Rahmenbedingungen) eine Verbesserung der Situation ist, wg Angeb. & Nachfr.
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Ooh, eine Gotcha-Frage. Immer noch weit weg vom Thema – zur Erinnerung, wir starteten beim BGE. Dafür stellt sie eine Frage, der es nicht darum geht, eine Lösung zu erarbeiten. Sie kennen das vielleicht. In Seminaren lernen wir, möglichst keine geschlossenen Fragen zu stellen, damit das Gegenüber seine Gedanken ausbreiten kann, statt nur Ja oder Nein zu sagen und zu verstummen.
Es gibt aber zwei Formen rhetorischer Fragen, denen es eben nicht um eine Antwort geht. Da ist die ‘ich setze ein Fragezeichen ans Ende, aber eigentlich ist das meine Antwort’-Frage, die sehr oft benutzt wird. Dann gibt es die obige Form, eine Frage, die das Gesprächsgegenüber besiegen soll. Egal welche Antwort man wählt, man verliert. Entweder stimmt man dem Gesprächspartner zu oder man macht sich lächerlich. Versucht jemand nuanciert zu antworten, unterbrechen die Fragestellenden und beharren auf einem klaren Ja oder Nein.
Immerhin greift die FDP Bottrop doch mal etwas von mir auf:
@Evo2Me andere sagen, mehr Produktivität kostet Arbeit.
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Leider ist die Antwort zwar syntaktisch sinnvoll, leidet aber auf der semantischen Seite, selbst wenn man nicht einmal die erste Seite eines Standardlehrwerkes ‘Einführung in die Ökonomie’ gelesen hat. An dieser Stelle bekam ich Zweifel, ob es sich womöglich um einen Satire-Account handelt – eine FDP-Gliederung spricht sich gegen Produktivität aus?
Nebenbei bemerkt, ist die Reihenfolge falsch rum. Selbstverständlich ist höhere Produktivität das Ergebnis von weniger menschlicher Arbeit bzw. günstigeren Arbeitskosten.
@FDP_Bottrop Sie kostet keine Arbeit, bestenfalls Arbeitsplätze. Wenn ich dieselbe Menge mit weniger Arbeitskräften produzieren kann,
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop haben wir eine höhere Produktivität [weniger Mannstunden pro Stück]. Daraus folgt u.a. Rationalisierung. Womit wir bei der
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop fairen Verteilung des Produktivitätzuwachses sind.
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop Wir können natürlich auf mehr menschlichen Arbeitskräften beharren. Verringert die Produktivität, sofern nicht die Löhne nach
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop unten korrigiert werden [Menschen billiger als Maschinen]. Das führt erst zu Sklaverei; letztendlich bricht es zusammen, weil
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
@FDP_Bottrop keiner mehr billiger werden kann. [historisches Beispiel: US-Südstaaten].
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
Ja, auch das ist alles verkürzt und doch schon viel zu lang für Twitter. Immerhin habe ich wichtige Stichworte untergebracht, mit deren Hilfe man sich schnell informieren könnte. Beachten Sie bitte auch, dass ich von der Verteilung des ProuktionsZUWACHSES schreibe.
@Evo2Me Es bleibt die Frage, wie man die, die noch arbeiten, motiviert. Des weiteren entscheidet das der Markt, wie viele Jobs es gibt.
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Nein. Die Frage stand bisher nicht im Raum. Nicht einmal in jenen Non-sequiturs, in denen die FDP Bottrop darauf bestand, über Arbeitsplätze zu reden.
@Evo2Me Und schließlich unterstellen Sie, daß der Kuchen gleich groß ist und er nur verteilt werden müsste. Der Kuchen kann auch größer sein
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Hatte ich erwähnt, dass es einen Schnellkurs in Lesekompetenz gibt? Ich schrieb deutlich von Zuwachs. Auch sonst gibt es keine Aussage von mir, die ein Wachstum ausschlösse – nicht implizit, auf keinen Fall explizit. Das ist dieselbe Taktik, die vorher angewandt wurde, als man mir unterstellte, ich lehnte das Angebot-Nachfrage-Prinzip ab.
Weil dies eine Unterstellung ist und weil es die zweite schwere Unterstellung ist, war ich inzwischen sauer.
@FDP_Bottrop Tue ich nicht. Ganz im Gelegenheit [Produktivitätswachstum!]. Damit ist meine Geduld auch am Ende.
— Dierk Haasis (@Evo2Me) July 3, 2015
Auch die Organisation, die sich hartnäckig weigerte, auf irgendetwas von mir einzugehen, stattdessen mit Parteiplatitüden daherkam, war angepisst und machte das deutlich:
@Evo2Me Meine Frage haben Sie nicht beantwortet. Aber Sie haben recht: lassen wir das.
— FDP Kreisverband Bottrop (@FDP_Bottrop) July 3, 2015
Ich vermute, bei der FDP kann man auf Wähler verzichten. Auf jeden Fall wird dort jemand nach der Lektüre dieses Beitrags sagen, ‘auf Wähler wie DEN können wir verzichten’. Das ist deren gutes Recht, wenn auch nicht besonders klug. Einen potenziellen Wähler vorführen zu wollen, dabei noch Genervtheit raushängen lassen, ist auf jeden Fall unklug. Nächstes Mal zeigt euch nicht verärgert, sondern argumentiert am Thema und beweist, dass ihr von Wirtschaft was versteht.
Man kann über BGE diskutieren, es gibt Gründe dafür, es gibt Gründe dagegen. Auch wenn man grundsätzlich für ein BGE ist, bleiben viele Fragen. Die FDP Bottrop hätte darüber mit mir reden können. Sie hätte auch sagen können, dass sie mit mir lieber über ihre konkreten Vorstellungen zu Rahmenbedingungen für Arbeit und soziale Unabhängigkeit diskutieren möchten. Stattdessen gab es Platitüden, Unterstellungen und offen ausgedrückte Verärgerung.