Ins Verhältnis gesetzt

Ich hatte gestern getwittert

Das ist eine ganz schnelle überschlägige Rechnung über das Problem einer Totalüberwachung, die per statistischer Heuristik Muster erkennen und mögliche Attentäter fassen soll. Ich habe sehr konservativ gerechnet, d.h. in diesem Fall, mir Zahlen genommen, die den Nachrichtendiensten und Sicherheitsbehörden zugute kommen. Die 60 Millionen überwachten sind in diesem Fall eine Zahl, die sich nur auf Deutschland bezieht und als Obergrenze alle Deutschen annimmt, als Untergrenze alle Haushalte. Es sollte offensichtlich sein, dass nicht alle Deutschen überwacht werden, z.B. weil Babys keine Handys und keinen Computerzugang benutzen. Es gibt aber im Schnitt pro Haushalt mehr als eine Person, die überwacht werden kann. Die Fehlerquote – hier geht es um jene, die fälschlich als Terroristen erkannt werden – ist bewusst extrem niedrig angesetzt. Bereits recht einfach Verfahren haben üblicherweise Fehlerquoten, die im einstelligen Prozentbereich liegen. Aber ich will einen Idealfall konstruieren, um zu zeigen, wie problematisch bereits der abgesicherte Gebrauch ist. Missbrauch kann es immer geben, wird es immer geben, er sagt uns aber höchstens, dass Schnittstellen abgesichert werden müssen. Missbrauch ist kein gutes Argument für oder gegen ein staatliche Einrichtung.

Wie sich einfach selbst rechnen lässt, erwarten wir bei 60.000.000 überwachten Personen und einer false positive-Quote von 1‰ 60.000 fälschlich als Terroristen erkannte Menschen.

Wie sieht es auf der anderen Seite aus, wie viele mögliche Attentäter gibt es überhaupt in Deutschland? Am 5. September 2011 hat Jacob Jung einmal ein paar Zahlen in seinem Blog gesammelt, die er einem Interview des Bundesinnenminister entnahm:

  1. 1000 mögliche islamistische Terroristen
  2. 128 davon Gefährder
  3. ungefähr 20 waren in Terrorcamps

Auch hier belassen wir es bei den Definitionen, die IM Friedrich und Sicherheitsfachleute der Behörden benutzen. Was genau ein ‘Terrorist’ ist, wie sich ‘islamistisch’ von ‘moslemisch’ unterscheidet, woran ‘Terrorcamps’ zu erkennen sind, wer dort was genau gelernt hat – in allen Fällen gebe ich dem IM den benefit of the doubt und gehe davon aus, dass er weiß, was er sagt und dass alles Hand und Fuß hätte.

Wir sprechen somit davon, 60.000 unschuldige Menschen zu verfolgen, um 20 zu erwischen, wenn sie einen Mordanschlag verüben.

Dabei wissen wir nicht einmal, ob die Überwachung überhaupt Attentate verhindert. Es ist doch nicht so, als wären [islamistische] Terroristen blöder als der durchschnittliche BILD-Leser, der auf die Idee kommt, auf Handy und Klartext zu verzichten, wenn er sich zu einer kriminellen Handlung verabredet. Agententhriller seit James Fenimore Cooper haben jedem, der lesen kann beigebracht, dass man Codes benutzt oder Formulierungen, die dem nicht eingeweihten Zuhörer als nichtssagendes Allerweltsgeschwafel scheinen. Jene Gruppe, die mit Basis Hamburg-Harburg vor ca. 12 Jahren ihren Anschlag gegen Einrichtungen des christlichen Kapitalismus und der USA planten und ausführten, waren nicht aufgefallen, weil sie nicht auffallen wollten. Sie waren unauffällig. Wie jeder nette Nachbarsjunge, von dem alle nach dem Amoklauf wissen, dass mit ihm was gestimmt haben konnte. Wir sollten uns auch klar darüber sein, dass Statistik grundsätzlich ein Werkzeug zur Vereinfachung großer Zahlenmengen ist. Mittelwerte, gewichtete Mittel, Standardabweichungen und all die anderen Koeffizienten dienen vor allem dazu, das Rechnen einfacher zu machen. Ergänzen wir diese mit Elementen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, um Mustererkennungen durchführen zu können, begeben wir uns auf sehr dünnes Eis. Ob es bricht, hängt dabei von den Annahmen ab, die Menschen in ihre Algorithmen programmieren.

Algorithmen treffen keine Entscheidungen. Menschen treffen Entscheidungen.

Addendum

Inwieweit Terrorismusabwehr überhaupt Grund von Überwachung ist, fragte Richard Gutjahr bereits vor zwei Jahren. Wie problematisch der Glaube ist, “anständigen” Menschen passiere schon nichts, habe ich bereits vor ein paar Tagen ausgeführt.

Notes:
1. Selbstverständlich immer davon ausgehend, dass die überängstlichen Hardliner nicht Recht haben, wenn Sie grundsätzlich jeden für verdächtig halten.
2. The Spy, 1821
3. Wer behauptet, er wäre auf der Autobahn in die Leitplanke gefahren, weil das Navi gesagt hat, er solle links abbiegen, lügt. Er ist dort reingefahren, weil er entschieden hat, sinnlos links abzubiegen.
Selbstverständlich immer davon ausgehend, dass die überängstlichen Hardliner nicht Recht haben, wenn Sie grundsätzlich jeden für verdächtig halten.
The Spy, 1821
Wer behauptet, er wäre auf der Autobahn in die Leitplanke gefahren, weil das Navi gesagt hat, er solle links abbiegen, lügt. Er ist dort reingefahren, weil er entschieden hat, sinnlos links abzubiegen.

4 thoughts on “Ins Verhältnis gesetzt”

  1. Betrachtet man einmal in Global Terrorism Database der University of Maryland die konkreten Terrorismus-Zahlen für Deutschland in den zwölf Jahren von 2000 bis 2011, dann stößt man auf die erschreckende Gesamtzahl von ganzen null Toten und 40 Verletzten. Zum (hinkenden) Vergleich: Die gleiche Zahl von Verletzten ist im Straßenverkehr alle 54 Minuten zu beklagen. Ginge es dem Staat wirklich um den Schutz von Leib und Leben seiner Bürger, dann müssten sich die Verantwortlichen fragen lassen, warum sie ihren Fokus so legen, wie sie dies nun einmal tun.

  2. Ich will es mal so formulieren – Warum wird den Mächtigen und Geheimdienstlern eigentlich die Mär vom Terroristen immer noch geglaubt? Die Netzsperren waren gegen Kinderpornos – die man damals schon, mit den NSA-Daten, innerhalb von einer Stunde komplett löschen hätte können. Waffenlieferungen an Unterdrücker-Regimes werden mit “Stabilisierung der Region” begründet. Die Öko-Steuer auf Sprit… ne, die wird mit der Rente begründet, sorry. Die Mächtigen wollen Macht und wollen ihre Macht behalten. Dazu ist jedes Mittel recht. Wenn Kriegsverbrechen öffentlich gezeigt werden, dann steht ein Soldat vor der Todesstrafe. Nicht, der das Verbrechen begangen hat – derjenige, der das Verbrechen öffentlich gemacht hat.

    Die Verfolgung, und auch das Einziehen des Passes, von Snowden zeigt, das es nicht gegen Terroristen geht. Es geht darum, die Bevölkerung zu überwachen. Zu kontrollieren. Gegen sie vorzugehen.

    Das von der “Terrorabwehrüberwachung” auch jede Menge normale Menschen betroffen sind – was solls? Wen stört es? Also, außer vielleicht Menschen, die deswegen plötzlich im Knast sitzen. Die den Job verlieren und nie wieder einen bekommen, weil sie keinerlei Sicherheitsüberprüfung mehr bestehen. Die nie wieder über die USA fliegen dürfen (wie einige EU-Parlamentarier). Naja, das sind dann halt Nebeneffekte, die man zum Höheren Wohl der Terrorabwehr in Kauf nehmen muß (also, muß eigentlich nicht. Aber genau das wird uns so erklärt).

    Wer Begründungen von Überwachern glaubt, der hat verdient, das er diese bekommt.

  3. Pingback: Noch mehr Totalüberwachung | es bleibt schwierig

Leave a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *